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Der revolutionäre Übergang durch globalen Lohnverzicht

Die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart

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Die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart lassen sich im Kern auf zwei miteinander verflochtene Widersprüche zurückführen. Der erste betrifft die strukturelle Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. Sie entsteht dadurch, dass Produktion und Markt vollständig dem kapitalistischen Verwertungszwang unterliegen, während der unbezahlte Care-Bereich außerhalb dieser Logik steht. Gerade weil Care-Arbeit nicht entlohnt wird, bleibt sie unsichtbar, trotz ihres fundamentalen Beitrags zur Reproduktion der Gesellschaft. Viele aktuelle Bestrebungen, wie die Initiativen Economiefeministe oder CloseEconDataGap richten sich daher darauf, den Wert der Care-Arbeit messbar zu machen, um ihn mit dem Bereich der bezahlten Produktion vergleichen zu können.

Der zweite Widerspruch, der unter anderem im Beitrag von Elfriede Harth (August 2020) deutlich benannt wurde, betrifft die zerstörerischen Dynamiken kapitalistischer Produktion insgesamt: die systematische Missachtung menschlicher Bedürfnisse, die Externalisierung ökologischer Kosten, das Wachstumsdogma, die soziale Ungleichheit und die tiefgreifende Entwertung sämtlicher Tätigkeiten, die nicht in die Profitlogik passen. Harths Perspektive auf eine Care-zentrierte Gesellschaft – auf eine Ordnung, in der nicht Profit, sondern Bedürfnisbefriedigung und Wohlstand im Sinne von Zeitsouveränität, Sinnhaftigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit den Maßstab bilden – zeigt, wie dringend eine grundlegende Transformation ist.

Das Phänomen des fortgeschrittenen Kapitalismus

Beide Widersprüche sind auf ein Phänomen zurückzuführen, welches besonders in den letzten 50 Jahren des entwickelten Kapitalismus entstanden ist, und welches vorher nicht in dieser Form bestand. Dieses Phänomen betrifft die Löhne, die nötig sind, um all das, was in der Wirtschaft im Überfluss produziert wird, auch kaufen zu können. Sie sind die Ursache für die Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, weil die unentlohnte Care-Arbeit gegenüber der entlohnten Produktionsarbeit im Nachteil ist. Auch für die zerstörerischen Dynamiken kapitalistischer Produktion sind die Löhne die Ursache, denn Lohnerhöhungen und die Sicherung der Sozialleistungen bei steigenden Preisen sind immer mit Produktionserhöhungen verbunden, weil die Mittel nicht anders erwirtschaftet werden können. Diese Produktionssteigerungen führen zunehmend zum Raubbau an Ressourcen, zur zunehmenden Schädigung und akuten Gefährdung unserer Umwelt auf Grund der stets steigenden Mengen an Abfällen und Abgasen sowie letztendlich auch zu steigender Ungleichheit, weil mit den Produktionssteigerungen auch die Profite steigen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass sie auch die Ursache für die zunehmende Kriegsgefahr sind, denn irgendwann kann der persönliche Konsum nicht mehr gesteigert werden und dann springt der Staat ein und beauftragt den Bau von Kriegsausrüstungen, für die großzügige Kredite aufgenommen werden. Für deren Rechtfertigung ist lediglich ein Feindbild erforderlich, das sich unschwer schaffen lässt.

Von der Ökonomie zur Ökophilie

Heute, auf der Grundlage des fortgeschrittenen wissenschaftlich-technischen Standes und der herrschenden Überproduktion, gibt es die Möglichkeit, beide Probleme gemeinsam zu lösen. Der Ausgangspunkt liegt in den zentralen Merkmalen der Care-Arbeit: Sie dient dem Fortbestand der Menschheit, sie orientiert sich an Bedarf statt an Marktpreisen, und sie produziert keine Überschüsse zur Verwertung. Der wesentliche Unterschied zur Produktion ist daher nicht die Art der Tätigkeit, sondern allein die Tatsache, dass Care-Arbeit unbezahlt ist, während Produktion lohngebunden bleibt – und damit in der Logik des Tauschwerts gefangen.

Der Übergang zu einer geldfreien, schenkbasierten Care-Wirtschaftsweise wird oft als technisch hochkomplexes oder politisch nahezu unmögliches, ja sogar utopisches Unterfangen wahrgenommen. Doch eine nähere Betrachtung der bestehenden gesellschaftlichen Struktur zeigt, dass der entscheidende Hebel bereits vorhanden ist – in Form der unbezahlten Care-Arbeit im Rahmen der Reproduktion, die heute schon rund die Hälfte aller gesellschaftlichen Tätigkeiten ausmacht. Diese Arbeit erfolgt ohne Markt, ohne Lohn, ohne Tauschwert und dennoch in hoher Qualität, bedarfsorientiert und weltweit stabil. Sie stellt damit nicht nur ein Gegenmodell, sondern bereits den funktionierenden Kern einer potenziell geldfreien Care-Wirtschaft dar.

Was kosten die Gaben der Schöpfung?

Die Grundlage jeder menschlichen Existenz sind die Gaben der Schöpfung – Wasser, Boden, Pflanzen, Tiere, Sonnenenergie. Diese Güter sind von Natur aus kostenlos, denn sie entstehen ohne Zutun des Menschen und tragen keinen Preis in sich. Der Preis entsteht erst, wenn die Gesellschaft sie in den Kreislauf der Warenform zwingt und ihnen künstlich einen Tauschwert zuweist. Doch dieser Tauschwert ist nichts als eine dünne Hülle, die verschwindet, sobald das Produkt die Sphäre des Marktes verlässt.

Wenn die Produktion nach den Prinzipien des Care-Bereichs organisiert wäre, würden beide Sphären automatisch zusammenfallen. Die kapitalistische Wirtschaftsweise beruht aber darauf, dass Produktion nur erfolgen kann, wenn zuvor Geld als Kapital eingesetzt wird, um Arbeitskraft zu kaufen. Erst die Lohnzahlung „verwandelt“ eine Tätigkeit in eine Ware und stiftet den Tauschwert der Produkte. Ohne Lohn entfällt der Tauschwert – und die Produkte werden logisch Teil eines unentgeltlichen, bedarfsorientierten Versorgungssystems.

Verweigerung der Löhne

Der Kern dieses Theorieabschnitts lautet daher: Ein revolutionärer Übergang ist möglich, wenn weltweit und gleichzeitig auf Löhne verzichtet wird. Für die Menschen in der Produktion bedeutet dies, dass sie ihre Arbeit nicht niederlegen, sondern im Gegenteil fortsetzen – nur dass sie den Lohn verweigern. Sobald jedoch keine Löhne mehr gezahlt werden, verschwinden die Produktionskosten unmittelbar und vollständig. Die Produkte verlieren augenblicklich ihren Preis, weil die Gaben der Schöpfung kostenlos sind und kein Kapital mehr für Lohnzahlungen vorgeschossen werden muss.

Das Eigentum an Produktionsmitteln verliert seine exklusive Funktion, weil Eigentümer mit Gewinnen und Renten nichts mehr kaufen können. Der Markt löst sich auf, noch bevor er institutionell abgeschafft wird. Die weltweite Vernetzung in Verbindung mit demokratisch kontrollierter KI verbindet den von Werbung unbeeinflussten Bedarf mit den Produzenten, sodass kein Markt mehr erforderlich ist. Die Produktion ist heute so flexibel aufgestellt, sodass keine Planung nötig ist. Hierdurch ergibt sich die uneingeschränkte Freiheit der Menschen, sich genau das zu nehmen, was vollkommen individuell für ein Leben in Würde benötigt wird.

Die Allokationsrolle des Marktes entfällt, weil in einer Care-Ökonomie langlebige Produkte hergestellt werden, ein nahezu vollständiges Recycling möglich ist und keine Überproduktion mehr erfolgt.

Gewaltlose Transformation

In diesem Sinne unterscheidet sich der Lohnverzicht grundlegend von den traditionellen marxistischen Vorstellungen eines Übergangs, die fast immer eine Aneignung oder Enteignung der Produktionsmittel voraussetzen. Während Aneignung voraussetzt, dass man etwas gewaltsam oder politisch umkämpft in die Hand bekommt, wirkt der globale Lohnverzicht vollkommen anders: Er entzieht den Produktionsmitteln schlicht ihre kapitalistische Funktion, ohne ihnen die physische Eigenschaft zu nehmen. Maschinen, Werkhallen und Immobilien werden unverändert weiter genutzt, sie verlieren nur ihre Bedeutung als Profitquellen. Dadurch wird der kapitalistische Charakter der Produktionsmittel sozusagen ausgeschaltet, ohne dass sie enteignet werden müssen. Ihr Gebrauchswert bleibt erhalten, ihr Tauschwert verschwindet.

Dieses Vorgehen führt automatisch zur Logik, die die Care-Arbeit seit jeher kennzeichnet: Tätigkeiten werden nicht deswegen ausgeführt, weil sie Lohn bringen, sondern weil sie notwendig sind. Dieser Maßstab ist universell anwendbar: Lebensmittel werden produziert, weil Menschen essen müssen; Kleidung wird hergestellt, weil Menschen sie benötigen; Bildung, Pflege und Energieversorgung sind funktional notwendig, nicht profitabhängig. Eine auf Lohnverzicht beruhende Produktionsweise richtet sich daher automatisch am gesellschaftlichen Bedarf aus – nicht an Kaufkraft oder Renditeerwartung.

Damit der Übergang verstanden und gesellschaftlich getragen werden kann, müssen vier zentrale Einsichten vermittelt werden:

  • Haushaltsperspektive als Schlüsselverständnis

Alles, was im Haushalt gebraucht wird – vom Topf über die Kartoffel bis zur Stromverbindung – hat keinen Tauschwert mehr, sobald der Kaufpreis bezahlt ist. Es existiert nur noch sein Gebrauchswert. Die Logik des Care-Bereichs zeigt: Das, was wir nutzen, ist im praktischen Leben kostenlos. Das ist nicht leicht zu verstehen, da wir täglich viele verschiedene Dinge kaufen und teilweise Gebrauchsgegenstände wieder verkaufen, also wieder dem Markt zuführen.

Aber wenn die Zutaten für unser Essen, das Waschpulver und das Schuhputzzeug im Haushalt nicht kostenlos wären, müssten wir Geld für unsere Tätigkeiten von unseren Familienmitgliedern verlangen.

  • Eigentum verliert automatisch seine ausschließende Funktion

Wenn alle Produkte kostenlos verfügbar sind, ändert Eigentum an Produktionsmitteln und Immobilien schlagartig seinen Charakter. Gewinne und Renten sind obsolet, weil nichts mehr damit gekauft werden könnte. Im Moment des Überganges zur Care-Wirtschaft verschwinden deshalb die Gewinne und Renten. Deshalb ist es auch wichtig, dass dieser Übergang global und gleichzeitig erfolgen muss.

Eigentum bleibt formal bestehen, verliert aber seine Machtgrundlage. Die kapitalistische Form wird aufgehoben, ohne dass die Dinge physisch angetastet werden müssen.

  • Übergang als globaler Streik neuen Typs

Der globale Lohnverzicht ähnelt einem Streik, aber er ist kein Arbeitskampf. Wir legen die Arbeit nicht nieder – wir verweigern nur den Lohn. Dadurch entziehen wir dem Kapitalismus seine Lebensgrundlage: die Verwertung menschlicher Arbeitskraft. Die Reproduktion der Gesellschaft bleibt stabil, ja sie stabilisiert sich sogar weiter, weil Produktion und Care-Arbeit nun dieselbe Logik teilen.

  • Keine politischen oder technischen Vorbereitungen

Der Übergang braucht keine technischen Vorbereitungen, keine Gesetzesänderungen, keine Reformen, keine neue Institution. Er verändert nicht die Produktionsweise, sondern nimmt ihr lediglich den Verwertungszwang. Die bestehenden Strukturen können vollständig bestehen bleiben, sie verlieren einfach ihre Funktion, weil ihre Funktionsbedingungen entfallen. Das ist der Start für die postkapitalistische Entwicklung der Wirtschaft.

Revolutionärer Übergang

Durch den globalen Lohnverzicht entsteht somit ein revolutionärer Moment, der vollständig gewaltlos, unbürokratisch und sofort wirksam ist. Er verbindet die feministische Kritik an der Unsichtbarkeit der Care-Arbeit mit der marxistischen Kritik am Kapitalismus zu einer gemeinsamen praktischen Strategie. Der Übergang schafft die Voraussetzungen, die es ermöglichen, die kostenlosen Gaben der Schöpfung mit unentlohnter Produktion zu verknüpfen. Dadurch entsteht eine Ökonomie des gemeinsamen Schenkens, in der der Wert menschlicher Tätigkeit nicht mehr im Geld, sondern in der Sorge umeinander liegt.

Der revolutionäre Übergang ist daher nichts anderes als die Entscheidung, die Funktionsweise der Care-Arbeit auf die gesamte gesellschaftliche Produktion auszudehnen – und damit die Grundlage einer neuen, egalitären und ökologisch sowie ökophilisch stabilen Ordnung zu schaffen.

Berlin, den 20.11.2025

Eberhard Licht

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